19:41 01-12-2025

Emder: Wie ein Epos eine vergessene ugrische Stadt fand

Wie Forschende dank einer chantischen Bylina die ugrische Festungsstadt Emder aufspürten: Archäologie, Handel und das Ende einer Hochburg in der Taiga.

Die Geschichte, wie ein russisches Epos zur Arbeitskarte für Forschende wurde, klingt nach einem Abenteuer. Genau so jedoch wurde Ende des 20. Jahrhunderts die uralte Stadt Emder gefunden – eine befestigte Hochburg der Ob-Ugrier, die über Jahrhunderte nur in Liedern und Überlieferungen weiterlebte.

Das Epos, das den Weg wies

Ende des 19. Jahrhunderts hielten Ethnografen Legenden der Chanten fest, darunter die Bylina von den Helden Emders. Sie liest sich wie eine Saga von fünf Brüdern. Der Folklorist Serafim Patkanow bemerkte dabei einen entscheidenden Hinweis: Die Stadt habe an einem Fluss gelegen, der im Winter nicht zufriere, dessen Ufer aber von Raureif gesäumt seien. Ein einziges Bild, und die Suche wurde von vagem Rätselraten zu etwas, das an Kartografie erinnert.

Fast ein Jahrhundert später brachten die Archäologen Alexej Sykow und Sergej Kokscharow diese Beschreibung mit dem Fluss Yendyr, einem Nebenfluss des Ob, in Verbindung. Der Geophysiker Wladimir Dolganow berichtete ihnen anschließend von merkwürdigen Wällen und Mulden entlang seiner Ufer. Eine Hypothese nahm Gestalt an. 1993 legte eine Expedition 68 Kilometer von Nyagan entfernt eine befestigte Siedlung frei. Auf dem Landsporn der Festung wuchs eine mächtige Lärche – so wie es die Bylina von einer Eulenprinzessin erzählte, die auf einem Baum mit sich schälender Rinde sitze. Selten zeigt sich so deutlich, dass mündliche Überlieferung Koordinaten über Jahrhunderte bewahren kann.

Eine Festung aus der Taiga

Jahre der Ausgrabungen ließen Emder als echte Holzburg des 11. bis 16. Jahrhunderts hervortreten. Der Grundriss erinnert weniger an Trümmer als an den Bauplan eines kleinen Gemeinwesens.

Die Stadt ging mehr als einmal in Flammen auf, doch ihre Bewohner bauten sie wieder auf – ein deutlicher Hinweis auf ihre strategische Bedeutung. Emder war kein Randdorf, sondern fungierte als politisches Zentrum eines kleinen ugrischen Fürstentums.

Handel, Waffen und Verbindungen in ferne Regionen

Die Wirtschaft der Festung ruhte auf Jagd, Fischfang und Viehhaltung. Der eigentliche Reichtum bestand in Pelz – einer überall geschätzten Währung.

Archäologen fanden:

Diese Funde deuten auf weite Handelsbeziehungen – von Nowgorod bis in tatarische Gebiete. Über Mittelsmänner gelangten die Felle bis nach Europa und Zentralasien. Emder Handwerker bearbeiteten Knochen und Leder und betrieben Bronzeguss, und die Macht ging innerhalb von Familien über. Im 16. Jahrhundert wurde die Stadt zum Vasallen des Fürstentums Koda, ohne an Gewicht zu verlieren.

Die Brüdersaga und ihr tragisches Ende

Im Kern der Emder Legende steht die Bylina von fünf Kriegerbrüdern. Sie spannt den ganzen Bogen eines Epos: ein älterer Kämpfer, berühmt für seine Stärke; der jüngste Held Jag, schnell wie der Wind; die Suche nach einer Braut in einer fernen Stadt an der Konda; ein Streit, der in Blutvergießen mündet; der Tod von drei Brüdern und das Gelöbnis der Rache. Archäologen vermerken, dass viele Details – Flussnamen, Lärchen, Hinweise auf Feinde – mit dem übereinklingen, was der Spaten bestätigt hat. Die Schnittmenge aus Vers und Befund wirkt ungewöhnlich überzeugend.

Emders letzte Tage

Am Ende des 16. Jahrhunderts hörte die Stadt auf zu existieren. Sie wurde im Sturm genommen und dem Erdboden gleichgemacht. Der letzte Gegner bleibt ungewiss – vielleicht Nachbarn, vielleicht Kräfte, die aus dem Westen heranrückten. Nach dem Fall der Festung lebte ihre Erinnerung nur im Lied fort, bis die Archäologie sie wieder in die Überlieferung zurückholte.

Bedrohtes Erbe

Heute gilt das Yendyr-Burgareal als Objekt regionalen Kulturerbes. Seine Bewahrung ist jedoch ständig gefährdet. Archäologen finden jedes Jahr Spuren von Plünderern, und in der tiefen Taiga sind sie schwer aufzuhalten. Jedes verlorene Stück ist eine unwiederbringliche Seite Geschichte.

Trotzdem geht die Arbeit weiter. Das Museum in Nyagan bietet Bildungsprogramme an, und für Jugendliche werden archäologische Camps organisiert. Geplant ist eine Rekonstruktion der Emder Festung als Teil eines künftigen Kulturkomplexes. Vielleicht werden Besucher eines Tages über diese Mauern gehen und dem Echo jenes Epos nachspüren, das Forschende zu einer verschwundenen Stadt führte.